[Rezension] Friedrich Christian Delius - Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde

Rückentext:
Am berühmtesten Tag der deutschen Nachkriegsgeschichte, dem Tag, an dem der krasse Außenseiter Deutschland Fußballweltmeister wird, am 4. Juli 1954, wird ein elfjähriger Pastorensohn in dem hessischen Dorf Wehrda wie an jedem Sonntag geweckt: vom Lärm der Kirchenglocken, die eine Viertelstunde lang nur eine Botschaft einläuten: Du sollst den Feiertag heiligen! Am Nachmittag dieses Sonntags hört er jedoch einem "unerhörten Gottesdienst" zu: Herbert Zimmermanns Radioreportage wird für den schüchternen, stotternden Elfjährigen zu einer Art Damaskus-Erlebnis. Das religiöse Vokabular des Reporters, das in der Huldigung an den "Fußballgott" Toni Turek gipfelt, schockiert den Jungen zwar. Für zwei Stunden dem "Vaterkäfig" entronnen, erlangt er aber eine Ahnung von Freiheit - "ich war der glücklichste von allen, glücklicher vielleicht als Werner Liebrich oder Fritz Walter".

Meine Meinung:
Dieses Buch suchte ich mir für die Supernatural-Challenge aus, ausserdem wollte ich schon lange mal etwas von Delius lesen. Mit dieser Erzählung konnte ich mir nun ein Bild vom Schreibstil des Autoren machen und ich muss sagen, er hat mich überzeugt.

Als Hinweis für alle Interessierten: es ist ein sehr langsames Buch, das sich bis zum Ende hin aufbaut. Auch ich hatte zwischendurch ein paar kleinere Hänger, aber zum Schluss realisiert man, dass es all dies braucht, damit die Schlussszenen so richtig Eindruck schinden können.

Die Erzählung ist stark autobiographisch und das merkt man auch. Das Leid, das dem kleinen Jungen widerfährt, ist ein psychisches, kein physisches. Gegen aussen mag alles idyllisch scheinen in dieser Pfarrersfamilie, aber hier, schriftlich, schildert der Autor, wie sehr er unter der Angst gelitten hat. Dieser Text kriecht einem durch Mark und Bein. Es ist intensiv und wahrscheinlich auch Selbsttherapie.

Wir erleben mit, wie dieser elfjährige Junge zittert, leidet, entfliegt ins Dorf, sich Gedanken macht über Gott und die Welt und wie er am Nachmittag dieses geschilderten Sonntages etwas ganz Neues entdeckt: er sagt sich los vom alles dominierenden Gott seines Vaters und entdeckt den "Fussballgott".

Hier nimmt das Buch eine neue Wendung auf. Es brauchte die Stille und die Zurückgezogenheit der ersten 100 Seiten, um dann auf den letzten diese Wende im Leben eines Jungen so drastisch zu schildern wie sie war. Die ganze Stimmung wird plötzlich losgelöst, jubelnd, lebensbejahend.

Wo zuvor noch Angst und Beklommenheit war, ist jetzt Freude und Stolz. Man merkt dies in jeder Zeile und auch als Leser wird man mitgerissen von dieser Energie, die plötzlich durch den Text und den kleinen Jungen strömt. Was für eine Entwicklung! Was für eine Wende! Da wurde tatsächlich ein Junge Weltmeister, der noch nicht einmal in Bern war.

Er wurde an diesem Nachmittag Meister seiner eigenen Welt.

"Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde" ist kurz, hochgradig aufwühlend und auf einer Ebene berührend, die ich bisher nicht kannte. Was für ein Autor, was für ein Text, was für ein Nachmittag!


Friedrich Christian Delius
Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde
HC, 1. Auflage 1994
Rowohlt

3-498-01298-3

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

[Lesenacht] Spontane Lesenacht bei Reading Tidbits

[Abgebrochen] Tracy Rees - Die Reise der Amy Snow

[Challenge] Kopfkino #32